Maerchenhaft


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    Buch Maerchenhaft

Vom Wettstreit der Tiere
Ulrike Nolte

Einmal entbrannte ein Streit zwischen Gottes Geschöpfen, welches von ihnen den höchsten Rang haben solle. Also versammelten sie sich im Paradiesgarten und versuchten sich gegenseitig auszustechen.

Als erstes drängelte sich ein Zwergschimpanse aus ihrer Runde nach vorne, setzte sich in die Mitte auf einen großen Felsen unter einem Apfelbaum und sprach: „Ohne Zweifel ist mein Volk von allen am meisten gesegnet. Bei uns herrschen Frieden und Eintracht, weil wir tagein, tagaus miteinander Liebe treiben. Die Männchen mit den Männchen, die Weibchen mit den Weibchen, auch mal in Gruppen und …“

„Schon gut, schon gut“, fiel ihm da ein Königspinguin ins Wort und kam mit seinem Liebsten zum Felsen gewatschelt. „Ihr habt also ein wahrhaft paradiesisches Leben. Aber eins fehlt euch doch, denn ihr wisst nichts von Zweisamkeit und Partnerschaft. Auch wir können wählen, wen immer wir wollen, sei es Männchen oder Weibchen, aber dann bleiben wir treu zusammen bis …“

„Treu!“, zwitscherte da spöttisch der Turteltäuberich von einem Ast herab. Er kam auf den Fels heruntergeflattert, und seine Frau folgte ihm voll ergebener Liebe. „Ihr wisst doch gar nicht, was Treue bedeutet! Bei euch Pinguinen wird vorm Brüten ständig fremdgegangen, eure Weibchen verkaufen Sex für Nistmaterial und kaum eine Partnerschaft dauert länger als ein Jahr. Seht dagegen uns an! Wir sind ein Vorbild für die ganze Tierwelt! Mann und Weib auf ewig vereint, so wie es sein sollte!“

Zu seinen Füßen ertönte ein belustigtes Zischen, und eine Rennechse kam in Windeseile auf den Fels unter dem Apfelbaum geklettert. Ihre Schuppenhaut glänzte in der Sonne wie ein Ritterpanzer. Sie schubste den Täuberich beiseite und sagte in Richtung seiner Frau: „Ist der immer so? Jetzt mal im Ernst, Schwester, wie hältst du es mit diesem Macho aus? Wenn Gott jemanden mit einem perfekten Leben gesegnet hat, dann ja wohl mich. Ich brauche mich nicht um irgendwelche Männer zu scheren, denn mein Volk besteht ausschließlich aus Weibchen, und die Fortpflanzung erledigen wir per Cloning.“

„Wie gääääähnend langweilig“, knurrte da eine Tüpfelhyäne aus der Menge der im Kreis versammelten Tiere. „Wer will schon die Kopie seiner Mutter sein? Also, wenn ihr mal spannende Fortpflanzungsorgane sehen wollt: Ich bin ein Zwitterwesen mit einer Vagina und gleichzeitig einem …“

„Quatsch“, schleimte sich die Schnecke den Felsen hoch und reckte besserwisserisch ihre Fühler in die Höhe. „Als Zwitter bist du ganz erbärmlich im Vergleich zu mir! Bei euch Hyänen gibt es schließlich immer noch Männchen und Weibchen, auch wenn ihr untenrum ein bisschen ungewöhnlich ausschaut. Wir Schnecken hingegen können bei jedem Sex neu entscheiden, welches Geschlecht wir haben wollen.“

„Blubb, blubb, blubb!“, ertönten da viele feine Stimmchen aus dem Wasser, das an den Paradiesstrand spülte, und eine bunte Menge Fische steckte die Köpfe aus den Wellen. „Als wenn das ein Grund zum Angeben wäre. Solche Geschlechtswechsler gibt es doch wie Sand am Meer.“

„Genau!“, rief ein Fischlein namens Nemo und hüpfte aufgeregt in die Luft. „Wir Clownfische werden alle als Männchen geboren und erst, wenn neue Weibchen gebraucht werden, verändert sich unser Körper. Das ist meinem Vater Marlin passiert. Seine Frau wurde gefressen, und deshalb hat er sich automatisch in ein Weibchen verwandelt und heißt jetzt Marlina.“

„Bei uns haben die Jugendlichen überhaupt kein Geschlecht, sondern können sich später überlegen, was sie werden wollen“, fügte ein Lippfisch hinzu. Gleich darauf brach unter den Fischen ein wildes Stimmengewirr los, denn alle wollten erzählen, wie viel erstaunlicher doch ihr biologischer Bauplan war.

Da stand das Menschenpaar namens Adam und Eva auf und trat zu dem Felsen. Eva betrachtete die Tiere, die dort schon versammelt waren, und sagte: „Ist es nicht wunderbar, was Gott sich alles ausgedacht hat? So viele Möglichkeiten …“

„Ja, und bei uns Menschen gibt es sie alle gleichzeitig“, sagte Adam stolz. „Unsere Kinder können sich in jedes Geschlecht verlieben, ganz egal, ob Mann, ob Frau. Manche sind einer einzigen Person treu bis zum Tod, andere wechseln ihre Partner, lieben sich in Gruppen oder heiraten gleich mehrere. Fast jedes Hundertste unserer Kinder kommt als Zwitter auf die Welt, und außerdem können wir Menschen uns frei entscheiden, ob wir unser Geschlecht behalten oder es im Laufe des Lebens ändern wollen.“

„… und ich bin sicher, das mit dem Klonen werden wir eines Tage auch noch lernen“, sagte Eva und knuffte ihren Mann zärtlich in die Adamsrippen.

Die Tiere schwiegen beeindruckt. Dann erhob sich ein Raunen und Flüstern unter ihnen, und bald darauf waren sich alle einig, dass Adam und Eva den Wettstreit gewonnen hatten und dass ihnen der Preis gebührte.

Seitdem dürfen die Menschen sich die ’Krone der Schöpfung’ nennen. Und wenn sie nicht ausgestorben sind, dann leben sie noch morgen.


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(Diese kleine Fabel hatte ich ursprünglich für mein Buch "Märchenhaft" vorgesehen,
aber da hat sie nicht mehr reingepasst. In der Tradition von Äsop, Lessing und Thurber
darf natürlich die Moral am Ende nicht fehlen. Hier ist sie also:
Wenn nur Heterosexualität natürlich und von Gott gewollt wäre, würde der ganze Rest wohl kaum in der Natur vorkommen.)